Ganzheitliche Medizin, Vollwertkost und Naturheilverfahren – diese Begriffe sind keinesfalls, wie man meinen möchte, Wortschöpfungen unserer heutigen Gesundheitsindustrie. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts gelangte ein Gelehrter, der sich mit genau diesen Themen beschäftigte, zu Ruhm und Ansehen, zunächst regional, später europaweit: Der süddeutsche Pfarrer Sebastian Kneipp, genannt „der Wasserdoktor“.
Kneipp stammt aus dem oberschwäbischen Stephansried bei Ottobeuren, wo er am 17. Mai 1821 als Sohn eins Webers geboren wird. Schon als Elfjähriger muss er im väterlichen Betrieb mitarbeiten, will indes keinesfalls Weber werden, sondern Theologie studieren. Nach Ende der Schulzeit geht Kneipp mit 21 Jahren auf Wanderschaft. Er landet zunächst in Grönenbach (Allgäu), wo ihn ein entfernter Verwandter, der dortige Kaplan Dr. Matthias Merkle, in Latein unterrichtet, um ihn auf das Gymnasium und Studium vorzubereiten. Hier lernt er auch den evangelischen Ortspfarrer Christoph Ludwig Koeberlin kennen, der ihn die Pflanzenheilkunde lehrt.
Die nächste Lebensstation des jungen Kneipp ist Dillingen an der Donau, wo er ab 1844 das Gymnasium besucht und 1848 sein Theologiestudium aufnimmt. Er erkrankt an Lungentuberkulose, die damals als unheilbar gilt. Bei einem Besuch der Münchener Hofbibliothek fällt ihm ein Buch „Unterricht von Krafft und Wirkung des frischen Wassers in die Leiber der Menschen insbesondere der Kranken“ in die Hände, geschrieben über 100 Jahre früher (1738) vom schlesischen Arzt und Philosophen Johann Siegmund Hahn. Kneipp befolgt die dort beschriebenen Heilanwendungen, wozu auch kurze Tauchbäder in eiskaltem Wasser gehören. Hierzu badet er in der winterlich kalten Donau und überwindet schließlich tatsächlich seine schwere Erkrankung.
1850 beginnt er das Theologiestudium am Priesterseminar Georgianum in München. Hier berät und behandelt er erstmals erkrankte Kommilitonen mit seinen Wasseranwendungen, gleichzeitig liest er alles, was er zum Thema Wassertherapie finden kann. Im August 1852 wird Sebastian Kneipp im Augsburger Dom zum Priester geweiht. In den nächsten Jahren arbeitet er zunächst als Jungpfarrer (Kaplan) in Biberach bei Augsburg, in Boos (Allgäu) und in Augsburg selbst, um 1855 Beichtvater im Dominikanerinnenkloster zu Wörishofen (Allgäu) zu werden. Während der letzten Jahre hat Kneipp bereits etliche Kranke (Gicht, Lungenerkrankungen, Cholera) mit seiner Heilkunst behandelt, was ihm erheblichen Ärger mit der Zunft der „etablierten“ Ärzte und Apotheker einbringt, die ihn der Kurpfuscherei bezichtigen.
Kneipps beharrliches Wirken, seine Ideen und Visionen und natürlich die nachweislichen Heilerfolge, die sich rumsprechen, lassen das verschlafene Dorf Wörishofen mit den Jahren zum regelrechten Pilgerort tausender Kranker werden, die sich von seinen Anwendungen Besserung erhoffen. Es entstehen Badehäuser und Hotels, dennoch müssen die Heilsuchenden während der Sommersaison im ganzen Landkreis einquartiert werden, da die örtlichen Kapazitäten nicht ausreichen. 1881 wird Kneipp offizieller Pfarrer von Wörishofen, im Jahr 1886 veröffentlicht er sein gesammeltes heilkundliches Wissen mit dem Buch „Meine Wasserkur“, dem 1889 das zweite Standardwerk „So sollt ihr leben!“ folgt. In diesem Jahr wird Wörishofen auch zum Kurort erhoben („Bad“ seit 1920). 1890 gründet sich der erste Kneipp-Verein, der heutige Kneipp-Bund e.V. hat etwa 160.000 Mitglieder. Und auch erste Vertreter der etablierten Ärzteschaft beginnen nun, sich für Kneipps Methoden und Anwendungen zu interessieren, womit seine Bekanntheit europaweite Dimensionen erlangt. Unter der interessierten Fachwelt ist auch der Würzburger Apotheker Leonhard Oberhäußer, der Kneipp überzeugt, seine Heilmittel im großen Stil herzustellen und weltweit zu vertreiben. Schließlich überträgt Kneipp dem Apotheker 1891 die Exklusivrechte zur Herstellung und Vermarktung der Rezepturen mit seinem Namen und seinem Bilde. Die daraus hervor gegangenen Kneipp-Werke sind heute europaweit einer der größten Produzenten von Arznei- und Nahrungsergänzungsmitteln sowie Körperpflegeprodukten.
In seinen späten Jahren ist Sebastian Kneipp in ganz Europa auf Vortragsreise, um der interessierten Öffentlichkeit die fünf Säulen seines Heilverfahrens näher zu bringen: Bewegung, Hydrotherapie, Pflanzenheilkunde, ausgewogene Ernährung und Ordnungstherapie zur Erlangung seelischen Gleichgewichts. 1894 hat er eine Audienz bei Papst Leo XIII. Um 1895 wird bei Kneipp ein großer Tumor im Unterleib diagnostiziert. Die behandelnden Ärzte raten Ihm dringend zur operativen Entfernung der Geschwulst. Er lehnt dies ab, weil er in der Erkrankung eine Gelegenheit sieht, die Möglichkeiten und Grenzen seiner Heilverfahren abermals an sich selbst zu erproben. Diesmal verliert er den Kampf mit der Krankheit und stirbt am 17. Juni 1897 in Wörishofen. Ebendort findet sich auch seine Grabstätte. Seine auch heute noch verlegten Bücher erreichten Auflagen in Millionenhöhe, auch zahlreiche Kurbäder führen das Prädikat „Kneippkurort“.
Text: Alexander Strauch