Umfrage: „Nennen Sie mal spontan einen berühmten Mediziner!“ Da dürfte sein Name im deutschsprachigen Raum stets unter den meist genannten sein: Rudolf Virchow. Die Mehrzahl der Befragten wird wohl auch noch sein Hauptarbeitsgebiet kennen (Pathologie), sowie die Stätte seines Schaffens (Charité, Berlin). Doch wer war dieser Mann wirklich? Welche Überzeugungen bestimmten sein Handeln und was wirkt von ihm bis heute nach?
Der Reihe nach. Rudolf Ludwig Karl Virchow wird am 13. Oktober 1821 in Schivelbein / Pommern (heute Swidwin / Polen) geboren. Die Familie lebt in einfachen Verhältnissen, der Vater ist Landwirt. Somit ist dem begabten Sohn ein teures, universitäres Medizinstudium nicht möglich; Virchow wird 1839 Stipendiat an der 1795 gegründeten Militärärztlichen Akademie (Pépinière) in Berlin, dem Lehrkrankenhaus für künftige Armeechirurgen. Die Existenz einer solchen Einrichtung ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass das Militär im preußischen Feudalstaat in allen Belangen höchste Priorität genoss; man sah den Krieg quasi als Normalzustand an und den Frieden nur als Zwischenepisode zur Reorganisation.
Jedenfalls beendet Virchow die dortige Ausbildung 1843 mit einer Dissertation in seinem Lieblingsfach, der Pathologie. Bald bekommt er eine erste Anstellung als Assistenzarzt von Robert Froriep, dem Prosektor an der Berliner Charité. Hier macht er rasch Karriere: Medizinisches Staatsexamen 1846, Habilitation 1847, im selben Jahr zusammen mit Benno Reinhardt Gründung der Fachzeitschrift „Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin“, einer Publikation, die unter dem Kurztitel „Virchows Archiv“ bis heute erscheint. Hiermit hatte er ein Organ für die sich gerade etablierende, neue, naturwissenschaftlich und evidenzbasierte Medizinlehre geschaffen.
Virchows Interessenspektrum reicht indes weit über die Medizinlehre hinaus, er plädiert für die umfassende Demokratisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, da nach seiner Sichtweise grassierende Seuchen durch die herrschenden sozialen Missstände wie Armut, Hygienemängel und Bildungsferne mit verursacht werden und eine sozial ausgerichtete Medizin hier mit ansetzen muss. So engagiert sich Virchow auch beim Märzaufstand 1848, was ihn im Folgejahr seinen Job kostet. Er folgt einem Ruf auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für pathologische Anatomie in Würzburg und entwickelt dort sein Konzept der Zellularpathologie (Krankheiten entstehen durch Zellveränderungen im Gewebe und / oder Organen), welches er der tradierten Sichtweise der Humoralpathologie (Krankheiten entstehen durch eine Störung der Körpersäfte) entgegen stellt. Das im Frühjahr 1858 in einer Vorlesungsreihe veröffentlichte Konzept war in seiner naturwissenschaftlichen Fundiertheit so überzeugend, dass es bis heute die Basis wissenschaftlichen Denkens geblieben ist.
Bereits zwei Jahre zuvor kehrt Virchow wieder nach Berlin zurück, als an seiner alten Wirkungsstätte die Position des Prosektors frei wird und die medizinische Fakultät auf seine Berufung drängt. Seine Rückkehr knüpft er an Bedingungen: So soll aus der Position des Prosektors (Chefpathologe) eine ordentliche Professur für pathologische Anatomie und allgemeine Pathologie werden; ebenso soll das bestehende Leichenschauhaus der Charité zum Institut für pathologische Anatomie hergerichtet werden, eingerichtet für praktischen Unterricht in der Medizinerausbildung. Seinen Wünschen wird entsprochen, und so bleibt Virchow bis an sein Lebensende Professor für pathologische Anatomie an der Charité und leitet bis in die 1870er Jahre dort auch eine klinische Abteilung. Leidenschaftlich widmet er sich außerdem dem Ausbau seiner pathologischen Präparatsammlung, die bis 1900 auf über 20.000 Exponate anwächst und schließlich einen eigenen Neubau, das pathologische Museum, bekommt.
Über seine medizinische Tätigkeit hinaus betätigt sich Virchow auch wieder politisch. 1859 wird er zum Berliner Stadtverordneten gewählt, 1861 ist er Gründungsmitglied der Liberalen Deutschen Fortschrittspartei, 1862 zieht er ins Preußische Abgeordnetenhaus ein. Hier führt er scharfe Auseinandersetzungen mit dem Preußischen Premierminister und späteren Reichskanzler Otto von Bismarck, der ihn 1865 wegen einer vorgeblichen Beleidigung zum Duell fordert. Virchow lehnt aus prinzipiellen Gründen ab und bekommt ob seiner Entscheidung gleichermaßen Schmähungen und Beifall.
In den 1870er Jahren engagiert sich Rudolf Virchow auch für die anthropologische Forschung. Er ist Mitbegründer der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Kulturgeschichte. In der Berliner Lokalpolitik ist er Fürsprecher einer zentralen Wasserversorgung und Entwässerung der Haushalte. Der Bau der Kanalisation ab etwa 1870 geht maßgeblich auf seine Initiative und den technischen Sachverstand seines Mitstreiters James Hobrecht zurück.
Schließlich forciert Virchow auch den Neubau von städtischen Krankenanstalten. Die Häuser Moabit, Friedrichshain, Urban und die Planung des nach ihm benannten Rudolf-Virchow-Krankenhauses (heute Campus Virchow-Klinikum der Charité) entstehen durch sein Engagement. Sein 80. Geburtstag 1901 wird zum großen Festakt, zu dem Glückwünsche aus aller Welt eintreffen. In seiner Festrede verspricht Virchow, noch solange es seine Gesundheit erlaubt, weiter zu arbeiten. Kurze Zeit später jedoch stürzt er beim unbedachten Ausstieg aus einer noch fahrenden Straßenbahn. Zwar verheilt der Oberschenkelhalsbruch wieder, doch ist seine Gesundheit durch die lange Liegezeit angegriffen. Rudolf Ludwig Karl Virchow stirbt im 81. Lebensjahr am 5. September 1902 in Berlin. Seine Grabstätte findet sich auf dem alten St.-Matthäus Kirchhof in Berlin-Schöneberg, Monumentenstraße. Einen eindrucksvollen Überblick über sein medizinisches Werk gibt die Ausstellung des Berliner Medizinhistorischen Museums auf dem historischen Kerngelände des Universitätsklinikums Charité in Berlins alter Mitte.
Text: Alexander Strauch