Hier soll vom wohl berühmtesten Arzt der Antike die Rede sein, der heute auch als Begründer der medizinischen Lehre im Status einer wissenschaftlichen Disziplin gilt: Hippokrates wird um 460 v. Chr. auf der griechischen Insel Kos in der südlichen Ägäis geboren. Schon sein Vater und weitere Familienmitglieder üben Heilberufe aus; die Familie sieht sich als Nachfahren des Heilgottes Asklepios. Der Vater ist es auch, der den jungen Hippokrates in der Heilkunst unterweist, weitere Studien führen ihn nach Athen. Zum Abschluss der Lehrzeit begibt sich Hippokrates auf lange Reisen und Wanderungen durch Griechenland und Kleinasien, um das Gelernte anzuwenden und praktische Erfahrungen zu sammeln.
Nach der Zeit der Studienreisen kehrt Hippokrates nach Kos zurück, wo er fortan als Arzt praktiziert und selbst Mediziner ausbildet. Aus seinen Beobachtungen und praktischen Erfahrungen entwickelt er eine medizinische Philosophie, die radikal mit den alten magisch-religiösen Vorstellungen (theurgisches Konzept bzw. Schamanismus) über die Entstehung und Therapie von Krankheiten bricht: Sein naturphilosophisches Konzept duldet keine „Laune der Götter“ mehr zur Erklärung von Erkrankungen. Vielmehr fordert Hippokrates eine ganzheitliche Betrachtung der Lebensumstände und Vorgeschichte (Anamnese) des Kranken. Der Arzt soll die Gesamtheit des Kosmos kennen und erkennen, bevor er einen Kranken behandelt; er muss nach Hippokrates genau wissen, wie sich die einzelnen Elemente, aus denen der Kosmos zusammengesetzt ist, sowohl zueinander als auch zum menschlichen Körper verhalten. Die heutige evidenzbasierte (Schul)medizin basiert immer noch auf diesem Prinzip.
Da bald viele Ärzte aus dem Umfeld von Hippokrates diese Auffassung teilen und weiter vermitteln, spricht man bald (und bis heute) von einer koischen Schule der Medizinlehre. Als Auslöser der meisten Krankheiten definieren die koischen Ärzte ein Ungleichgewicht in den vier elementaren Körpersäften Blut, Schleim, gelbe sowie schwarze Galle. Sie ordnen diese Säfte auch vier Grundtypen von Charakteren zu: Das Blut steht für den beschwingten, freudigen Sanguiniker, der Schleim für den trägen, zähen Phlegmatiker, die gelbe Galle für den agilen, aufbrausenden Choleriker und die schwarze Galle für den schwarz sehenden, depressiven Melancholiker. Dieses medizinische Weltbild der Viersäftelehre (Humoralpathologie) hält sich in der wissenschaftlichen Lehre Europas sehr lange und wird eigentlich erst mit den Veröffentlichungen zur Zellularpathologie (Krankheiten entstehen aus pathologischen Veränderungen in Körperzellen) durch Rudolf Virchow 1858 gekippt.
Doch zurück zu Hippokrates und den Ärzten seiner koischen Schule. Um 400 v. Chr. beginnen die Mediziner, ihre Philosophie und das gesammelte praktische Wissen als Kompendium für den medizinischen Nachwuchs aufzuzeichnen; es entstehen die ersten von etwa 60 Schriften eines Gesamtwerks, das heute als Corpus Hippocraticum bekannt ist. Hier finden sich Abhandlungen etwa über die Gelenke („de articulis“), über Knochenbrüche („de fracturis“) und über die Wirbelsäule, der zentrale Bedeutung für die Erkennung und Therapie von Krankheiten beigemessen wird, was in Sätzen wie „Erlanget Wissen über das Rückgrat, denn von diesem gehen viele Krankheiten aus“ oder „Die Wirbelsäule trägt Ursache und Wirkung in eins“ zum Ausdruck kommt.
Nach heutigem Erkenntnisstand stammen nur die ersten Teile des Werkes von Hippokrates selbst, der Großteil indes von seinen Arztkollegen und Nachfolgern. Auch der berühmte hippokratische Eid, welcher bis heute das Fundament der ärztlichen Ethik bildet, wurde sehr wahrscheinlich nicht von ihm selbst verfasst. Eine Kernaussage darin lautet: „Ärztliche Verordnungen werde ich treffen zum Nutzen der Kranken nach meiner Fähigkeit und meinem Urteil, hüten aber werde ich mich davor, sie zum Schaden und in unrechter Weise anzuwenden.“ Ein Hinweis darauf, dass die Sätze des hippokratischen Eides nicht von ihm selbst verfasst oder aber nach seinem Tode verändert wurden, findet sich in dem Satz, in dem Abtreibungen und aktive Sterbehilfe als unredlich abgelehnt werden; Hippokrates hingegen bezeichnet an anderer Stelle diese Maßnahmen als „legitim“.
Hippokrates verbringt seine späten Jahre vermutlich in der Stadt Larissa (heute Larisa, die Hauptstadt der griechischen Region Thessalien), wo er noch zu Lebzeiten als Berühmtheit verehrt und von etlichen Herrschern konsultiert wird. Er stirbt um das Jahr 377 v. Chr. Seine Söhne ergreifen ebenfalls den Arztberuf.
Text: Alexander Strauch